L'Orfeo spinario

Eine handgeschmiedete Sitzfigur des
Kunstschmiedemeisters Peter Klink

 

© Dr. Werner Robl, Berching, November 2021


In unserem Berchinger Garten thront seit dem 8. Oktober 2021 auf dem Wall hinter der historischen Vorstadtmauer eine lebensgroße, insgesamt über 120 kg schwere Schmiedefigur, geschaffen vom Kunstschmied und Künstler Peter Klink aus Pfullendorf/Denkingen.

Schon von Weitem fällt die Figur ins Auge, sitzt sie doch im Fluchtpunkt einer langen Blickgasse - von unserem Haus bis zur Vorstadtmauer.

Platziert nach den Regeln der Zentralperspektive, zieht das Kunstwerk nicht nur die Blicke jedes Hausbesuchers an, sondern es fordert diesen geradezu dazu auf, dem Korridor zu folgen und hinauf zu gehen, um die dargestellte Szenerie aus der Nähe zu betrachten.





Wie unschwer zu erkennen ist, stellt die Schmiedefigur einen fahrenden Sänger dar, welcher soeben durch den daneben befindlichen Einlass in der Mauer hereingekommen ist und auf den Kalksteinen des Mauerwalls Platz genommen hat, um sich mit der rechten Hand einen Dorn aus der linken Fusssohle zu ziehen, der zuvor beim Laufen gar nicht so sehr geschmerzt hat, aber jetzt, bei der Rast, anfängt, den jungen Mann zu peinigen. Eine solche Figur nennt man "Dornauszieher".



Das in wilden Strähnen liegende Haar des Sängers und Lautenspielers belegt, dass er bereits einen langen Weg zurückgelegt hat und anlässlich der Anstrengung gehörig in Schwitzen gekommen ist.



Die Laute, die dieser junge Mann von der Schulter genommen und zur Linken an den Felssitz gelehnt hat, weist sein Metier als Spielmann aus. Ausgebildet mit einem Knickhals, könnte sie noch aus dem Mittelalter stammen. An der Laute beachte man das Schallloch des Instrumentes, das aus gegebenem Anlass ein Pentagramm (Fünfeck) als Ziergitter ausweist.


In vielen anderen Details der Schmiedefigur erkennt man, dass der Künstler sein Fach verstanden und schwierige Partien in besonderer Meisterschaft ausgeführt hat.




Wir haben diese geschmiedete Männergestalt nicht ohne Grund "Orfeo spinario" getauft, übersetzt "dornausziehender Orpheus". So ist der Name vom Künstler auch im Gurt der Laute des Sängers und Spielnammes eingepunzt worden. Was es mit dem bedeutungsschwangeren Namen auf sich hat und warum wir uns dafür entschieden haben, erfährt der Leser in den folgenden Kapiteln.

Kunstschmiedemeister Peter Klink hat die eindruckvolle Sitzfigur aus Schmiedeeisen in den Jahren 2019 bis 2021 in mehreren hundert Stunden reiner Handarbeit angefertigt, in seiner Werkstatt in Denkingen, einem Vorort von Pfullendorf. [Kunstschmiede Peter Klink] Über die Etappen der Herstellung folgt ein eigenes Kapitel.

Nur wer weiß, wie schwer es ist, ein auf über 1000 Grad Celsius erhitztes, rotglühendes Stück Eisen mit der Zange zu halten und mit wuchtigen Hammerschlägen in eine Form zu bringen, die anschließend in die Gesamtfigur passt, und wer berücksichtigt, wie kurz im Grunde genommen das dafür zur Verfügung stehende Zeitfenster ist, kann den Wert und die Schönheit dieses Unikates entsprechend würdigen.

Obendrein beinhaltet dieses Denkmal des "Orfeo spinario" eine vielschichtige Symbolik, die der ausführende Künstler in sich trug, ohne dass ihm dies umfänglich bewusst gewesen wäre. Sie erschließt nicht nur interessante Phänomene der Menschheits- und Kulturgeschichte im Allgemeinen, sondern reflektiert auch in besonderer Weise die Geschichte der persönlichen Bekanntschaft zwischen Künstler und Auftraggeber. Darüber mehr am Ende dieser Seite.

Wegen des Umfangs dieser Informationen, ohne welche die Sitzfigur nicht in ihrem Gehalt verstanden werden kann, haben wir diese im Folgenden in einzelne Kapitel gegliedert. Der Klick auf die einleitenden Pfeil-Symbole öffnet und schließt jeweils ein Kapitel!



... und findet in Berching seinen Platz!

Am Freitag, den 8. Oktober 2021, ist es endlich soweit:

Schon seit Jahren harrt ein Sockel hinter der Berchinger Vorstadtmauer eines Denkmals.

Nach fünf Stunden Fahrt sind der Dornauszieher und sein Schöpfer gut bei uns eingetroffen.

Das Terrain und der Sockel sind inzwischen vorbereitet, aber noch kommt Orpheus nicht zum Sitzen ...

... sondern darf trotz Dorn einstweilen noch den Schlaf des Gerechten schlafen!

Dann endlich ist es geschafft - und Andreas Wagner von der Firma Englmann und Kunstschmied Peter Klink können sich ein wenig von der schweren Hebearbeit erholen.

Mittagspause!

Unser "Orfeo spinario" im Fluchtpunkt des Gartens.

An seinen Sitzplatz hat er sich rasch gewöhnt - nur der Dorn will nicht so recht heraus!

Der erste Besucher ist ein herbstliches Tagpfauenauge!


In Oberschwaben blieb der Wegzug des Dornausziehers nicht unbemerkt, wie ein Artikel im "Südkurier" vom 14. Oktober 2021 wiedergibt.

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Lo spinario - das Motiv des Dornausziehers
Die Pose unserer Schmiedefigur ist keine originäre Erfindung Peter Klinks, sondern folgt einem berühmten Vorbild.

"Der Dornauszieher", ital. "Lo Spinario", stellt eines der am häufigsten verwendeten Motive der bildenden Kunst dar. In nicht oder nur leicht bekleidetem Zustand sitzt ein Junge resp. eine männliche Person auf einem Felsblock und versucht, aus der Fusssohle des übergeschlagenen linken Beines einen unsichtbaren Dorn zu ziehen.

Der kapitolinische Dornauszieher ist der bekannteste Vertreter dieser Figurengattung. Die nur 73 cm hohe Bronzefigur stand einst, weithin sichtbar auf einem Sockel angebracht, auf dem Kapitol in Rom. Seine Datierung ist umstritten. Lange Zeit hielt man die Figur für ein Werk Lysipps, des Bildhausers Alexanders des Großen, aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Allerdings spricht nach Einschätzung von Experten doch Einiges dafür, dass sie erst in späthellenistischer Zeit angefertigt wurde, als Kopie eines heute verlorenen Prototyps aus dem 3. Jahrhundert vor Christus.

Eine analoge, gleich große Marmorfigur, der Dornauszieher Castellani, wurde 1874 auf dem Esquilin in Rom ausgegraben. Diese ebenfalls späthellenistisch beeinflusste, römische Kopie aus Marmor stammt vermutlich aus dem 1. Jahrhundert nach Christus und ist somit die ältere der beiden römischen Figuren.

Links der kapitolinische, rechts der esquilinische Dornauszieher, der eine heute im Palazzo dei Conservatori in Rom, der andere im British Museum of London.

Unzählige Male wurde im Lauf der Jahrhunderte das Motiv des Dornausziehers kopiert; die Palette reicht von der Spätantike über die Renaissance bis in die Moderne, von der Bildhauerei bis zur Malerei.

Darüber, was die Beliebtheit und Faszination der Darstellung begründet, wurde in den kunstgeschichtlichen Werken viel Tinte vergossen. Uns konnten die meisten Erklärungen nicht recht befriedigen, denn in Wirklichkeit kommt dieser Figur eine ganz spezifische Bedeutung zu, die unseres Wissens bislang nur einem einzigen Künstler und keinem der darüber urteilenden Kunstexperten bewusst wurde. Da diese Eigenschaft für die Figur unseres Orpheus von ganz besonderer Bedeutung ist, kommen wir in einem eigenen Kapitel darauf zurück.

An dieser Stelle bringen wir einige besonders markante Bildbeispiele des Dornausziehers:

Maria mit dem Kind, Tondo auf Lindenholz, von Luca Signorelli, zwischen 1492 und 1498, Alte Pinakothek München. Der junge Mann rechts im Hintergrund zieht zwar seine Sandalen aus, ist aber in Bezug auf die Haltung ganz dem "Spinario" nachempfunden und sucht vermutlich in Bälde auch einen schmerzenden Dorn.

Skizzen des Dornausziehers, aus der Hand des niederländischen Malers Peter Paul Rubens, ca. 1601/02, heute im British Museum of London.

Neuzeitlicher Dornauszieher, bronzene Replik des kapitolinischen Originals auf der Insel Mainau, Ansichtskarte von 1932. Dieses Exemplar dürfte die unserem Künstler Peter Klink nächstgelegene Figur eines Dornausziehers sein.

Um es zu wiederholen: Wenn sich Peter Klink bei seinem geschmiedeten Kunstwerk für dieses Motiv entschied, dann geschah dies nicht ohne Grund, sondern intuitiv unter der Vorstellung eines ganz speziellen "Dornausziehers", über welchen wir in einem der Vorjahre eifrig diskutiert hatten. Von ihm erfährt der Leser im übernächsten Kapitel!

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L'Orfeo fiorentino - der florentinische Orpheus
Für uns verkörpert der Spielmann, den Peter Klink schuf, aufgrund seines Instrumentes Orpheus, den berühmtesten und besten Sänger aller Zeiten. Dieser Orpheus ist bereits eine Leitfigur der frühen griechischen Mythologie; er soll aus einer Verbindung des Gottes Apoll mit der Muse Kalliope hervorgegangen sein. Der Gesang des thrakischen, aus dem Rhodopen-Gebirge stammenden Musikanten war der Sage nach so betörend, dass er damit selbst wilde Tiere und Felsen in seinem Bann schlug. Berühmt geworden durch das Spiel auf der Lyra oder Leier, die er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, wurde der Beste aller Sänger sogar Teil der berühmten Argonautensage.

Orpheus mit der Lyra, Ausschnitt aus einem Gemälde von Carl Andreas August Goos, 1830, im Statens Museum for Kunst in Kopenhagen.

Nach den römischen Dichtern Ovid und Vergil soll Orpheus so sehr am frühen Tod seiner geliebten Frau, der Nymphe Eurydike, gelitten haben, dass er in die Unterwelt hinabstieg, um diese zurückzuholen. Damit hatte er zunächst auch Erfolg. Man übergab ihm das Schattenwesen seiner Frau und versprach ihm, sie ins erneute Leben zu entlassen - allerdings unter der Auflage, dass er sich beim Aufstieg vom Totenreich zur Oberwelt ja nicht nach ihr umsehen dürfe, da sie ansonsten für immer verloren wäre. Da Orpheus am Ende des Aufstiegs diese Zurückhaltung aus Liebe und Sorge  um seine klagende Gattin nicht gelang, verlor er sie tatsächlich für immer. Hierauf zog er tief trauernd und ratlos durch die Welt, bis er schließlich von den missgünstigen Mänaden, die er zuvor verschmäht hatte, in Stücke zerrissen wurde. Sein Kopf wurde mit seiner Lyra in den Hebros geworfen und anschließend an die Insel Lesbos gespült. Soweit die unbarmherzige Sage. Dass Orpheus viele Jahrhunderte später aus einem oberschwäbischen Zinkbad wie neu geboren und glänzend wieder auftauchen würde, konnten die Sagenerzähler der Antike freilich nicht wissen;-))

Unsterblich wurde allerdings Orpheus schon früher - als Projektionsfigur bei den bildenden Künstlern [Link]:

So wurde z. B. Orpheus in der italienischen Frührenaissance wiederentdeckt, im Rahmen der generellen Antikenrezeption ab ca. 1420 n. Chr.. Dabei kam es durchaus vor, dass dem Orpheus zum besseren Verständnis statt der antiken Lyra ein zeitgenössisches Instrument in die Hand gegeben wurde. Im Fall der Kunststadt Florenz war dies zunächst die damals übliche, aus dem Mittelalter stammende Knickhalslaute.

Berühmt ist in diesem Zusammenhang das von Luca della Robbia (1400-1481) stammende, hexagonale Kachelrelief an Giottos Campanile in Florenz, entstanden um 1437/38:

Der Orpheus des Luca della Robbia,  Original heute im Museo dell'Opera del Duomo.

Auch Francesco della Cossa (1435-1477) hat sich, wahrscheinlich inspiriert von der Darstellung Lucas della Robbia in Florenz, in diesem Sinn mit der Figur des Orpheus auseinandergesetzt:

Der lautenspielende Orpheus des Francesco della Cossa.

Da sich diese beiden frühen Renaissance-Darstellungen des singenden Orpheus mit einer Laute in Museen der Kunststadt Florenz befinden, in der sie auch entstanden, ist es durchaus statthaft, bei einem lautenspielenden Orpheus von einem "Orfeo fiorentino", einem "florentinischen Orpheus", zu sprechen.

Von Italien aus zog der wiederentdeckte Orpheus mit seinem tragischen Schicksal seinen Siegeszug in der darstellenden Kunst Zentraleuropas an.

Vor allem in der Barockzeit wurde Orpheus als tragische Leitfigur für die Oper entdeckt und seine tragische Geschichte mit Eurydike häufig im "Dramma per musica" verankert. Viele Komponisten haben sich an diesem Stoff versucht, von denen Claudio Monteverdi im Jahr 1607 und Christoph Willibald Gluck im Jahr 1762 in ihren Opernwerken "L'Orfeo" und "Orfeo ed Euridice" die wohl wichtigsten Marksteine gesetzt haben.

In dieser Zeit wurde es in der Malerei wie im Theater üblich, dem Rhodope-Sänger weitere Musikinstrumente, welche zwischenzeitlich erfunden worden waren, in die Hand zu drücken. Dies war zum kleineren Teil die Gitarre, zum größeren Teil die mit dem Bogen gestrichene Violine oder das Violoncello. Hier einige Bildeispiele:

Darstellungen des Orpheus auf Gemälden von Cesare Gennari (1637-1688).

Orpheus und Eurydike, Gemälde von Jean Raoux (1677-1734), von ca. 1720, heute im J. Paul Getty Museum.

Die Konsequenz aus der geschilderten, relativ spezifischen Rezeption des Orpheus in der italienischen Frührenaissance:

Peter Klink hat sich, als er seine geschmiedete Sitzfigur ganz unbewusst mit einer Knickhals-Laute, einem früheren Meisterstück, ausstattete, für die Darstellung eines frühen, florentinischen Orpheus entschieden!

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Der Dornauszieher des Filippo Brunelleschi
Filippo Brunelleschi (1377-1446) war einer der führenden Architekten, Ingenieure und Bildhauer der italienischen Frührenaissance. Geboren in seiner Vaterstadt Florenz und ausgebildet zum Goldschmied und Bildhauer, nahm er im Jahr 1401 u. a. mit seinem Konkurrenten Lorenzo Ghiberti (1378-1455) an einem Wettbewerb teil, der als Meilenstein in die Geschichte der Kunst einging.

Ausgeschrieben war vom Magistrat von Florenz die Anfertigung eines 28-teiligen Bronzereliefs für die Nordtür des Baptisteriums von Florenz, dessen Fertigstellung sich hinterher über 20 Jahre hinzog, also für den siegenden Künstler im wahrsten Sinn des Wortes ein Lebensprojekt war.

Das Untergeschoss des Baptisteriums von Florenz: Zur Rechten die sogenannte "Paradiestür", zur Linken die viel bewunderte "Nordtür", beide von Lorenzo Ghiberti. Ganz links Detail der Nordtür.

Zu diesem Konkurs hatten die Wettbewerber ein Teilrelief im sogenannten Vierpass zu fertigen, welches eine biblische Szene, nämlich die Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham, zeigt.

Links der Entwurf Filippo Brunelleschis, rechts der Entwurf Lorenzo Ghibertis.

Während Lorenzo Ghiberti mit seiner Art der Darstellung - möglicherweise allein durch die erzielte Materialeinsparung - am Ende den Zuschlag bekam, zog Francesco Brunelleschi den Kürzeren.

Nichtsdestotrotz ist heute Brunelleschis Darstellung die weitaus mehr diskutierte. Dies liegt nicht nur am künstlerischen Entwurf als solchem, der im Vergleich zu Ghibertis Darstellung eine größere Dramatik wiedergibt, sondern vielmehr daran, dass seine Darstellung zu Füßen des Opferaltars zwei unbeteiligt wirkende Diener zeigt, von denen der zur Rechten an seinen Strümpfen nestelt, während der andere zur Linken versucht, sich einen realen oder fiktiven Dorn aus der Fußsohle zu ziehen. Brunelleschi hat also hier das Motiv des kapitolinischen Dornausziehers von Rom auf seine spezifische Art und Weise in ein dramatisches Geschehen eingebettet.

Brunelleschis Bronzeplatte von 1401/02 befindet sich wie Ghibertis Entwurf heute im Palazzo del Bargello in Florenz.

Der "Dornauszieher" Brunelleschis, Detail aus dem linken unteren Vierpass-Element: Der Diener verweigert wie der Esel und sein Kollege auf der Gegenseite den Blick zum Blutopfer Abrahams und beschäftigt sich lieber mit seiner Fußsohle.

Mit dem herben Kontrast zwischen der hochdramatischen Szene im oberen Teil des Reliefs, bei welcher die Tötung des Sohnes durch den Vater erst im letzten Augenblick durch einen Engel des Herrn verhindert wird, und der geradezu gelangweilten und unbeteiligt wirkenden Haltung der beiden Diener im unteren Teil erzielte Filippo Brunelleschi eine hohe Spannung in der Bilddarstellung. Vor allem aber verwies er intuitiv auf ein Verhalten, welches erst geschlagene 540 Jahre später von Nikolaas Tinbergen (1907-1988) wissenschaftlich untersucht und gedeutet wurde und diesem 1973 zusammen mit Karl von Frisch und Konrad Lorenz, dem "Vater der Graugänse", den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin einbrachte:

Es handelt sich beim Verhalten der Diener um den klassichen Fall einer sogenannten Übersprunghandlung, engl. "behaviour out of context".

Der Begriff beschreibt ein instinktives Verhaltensmuster, das von externen Beobachter als unerwartet und situations-inadäquat empfunden wird, aber dem Betreffenden, der dieses Verhalten plötzlich an den Tag legt, entscheidend dabei hilft, einen schweren, unauflöslichen Konflikt zwischen zwei widerstrebenden Instinkten auf eine dritte Instinkthandlung anderer Art umzulenken und somit eine extreme Stressituation zu entschärfen. Sehr häufig handelt es sich dabei um Aktivitäten der Körperpflege oder der Nahrungsaufnahme.

Zur Verdeutlichung dessen, was hier gemeint ist, wird als Beispiel gern der Zwist zwischen zwei gleich starken Hähnen herangezogen, die ihre Hackordnung auskämpfen. Wenn der eine mitten im erbitterten Kampf plötzlich auf dem Boden herumpickt, als würde er fiktive Futterkörner aufnehmen, und der andere Hahn ihm womöglich in diesem Verhalten auch noch folgt, dann beschreibt dies exakt eine Übersprunghandlung und bedeutet nichts anderes, als dass beide Kontrahenten den Konflikt zwischen gleich starker Angriffs- und Fluchtenergie nicht anders auflösen können als so!

Der Hahnenkampf - Ausschnitt aus einem Gemälde von Jean-Léon Gérôme (1846).

Wenn wir eine solche Konfliktsituation auf die Diener Abrahams in Brunelleschis Bronzerelief von 1401/02 übertragen, dann heißt dies, dass die beiden Diener Abrahams zwar an dem kleinen Isaak hingen, also ihm liebend gern zur Hilfe gekommen wären, dass sie aber andererseits ihrem Herrn Abraham Gehorsam schuldeten und die Angst vor Bestrafung sie dazu trieb, über dessen unverständlich aggressives Verhalten dem leiblichen Sohn gegenüber hinwegzusehen und sich aus dem grausamen Geschehen herauszuhalten. Dabei kamen ihnen intuitiv Übersprunghandlungen sehr gelegen: Da sich der Konflikt zwischen zwei natürlichen Regungen - man spricht in diesem Zusammenhang auch von Appetenz-Aversions-Konflikt: hin zur Rettung Isaaks, weg aus Angst vor Strafe - für beide Diener nicht auflösen bzw. länger ertragen lässt und er ihnen nahezu unerträglichen Stress einbringt, verlegen sie sich plötzlich zur Linderung der Situation auf die Körperpflege, was einem außenstehenden Betrachter des Reliefs als unnatürlich und geradezu widersinnig vorkommen muss, vom Künstler Brunelleschi aber als Ausdruck des Selbsterhaltungtriebs der beiden Diener genau erfasst und gezielt projektiert worden war.

In nichts erkennen wir das Genie Filippo Brunelleschis besser als in dieser Darstellung von Übersprunghandlungen, zu deren Aufdeckung als wichtige Phänomene der Verhaltens- und Instinktlehre noch Jahrhunderte vergehen sollten!

Peter Klink betonte bei der Erklärung der Pose, dass ein Schmerz, der bei Anstrengung gar nicht so sehr gespürt wird, in Ruhe dann durchdringt und Linderung verlangt, was sicherlich richtig ist. Wenn er sich aber dabei an ein gemeinsames Gespräch über dieses Thema erinnerte, anlässlich einer abendlichen Diskussion über die Pentagramm-Geometrie, der wir das nächste Kapitel widmen, dann implizierte das von meiner Seite eben jene faszinierende Deutung Brunelleschis als Übersprunghandlung.

Die geschilderte Genialität, die Brunelleschi über den ebenfalls hochbegabten Ghiberti ein gutes Stück hinaushob und ihm geradezu Unsterblichkeit verschaffte, sollte sich wenig später in zwei weiteren, epochemachenden Aktivitäten niederschlagen:

  • In zwei im Jahr 1410 gemalten Prospektionen der Piazza San Giovanni und der Piazza della Signoria in Florenz erweist sich Filippo Brunelleschi als der Entdecker der Zentralperspektive und ihrer Gesetzmäßigkeiten, womit er der höheren Trigonometrie und Geodäsie als Lehre Vorschub leistete und Malerei und Architektur auf zuvor nicht geahnte Höhen hob.

  • Zwischen 1418 und 1436 konstruierte und erbaute er die Kuppel des Doms von Florenz als oktogonalen Doppelschalenbau. Mit seinem völlig neuen Konzept überwand er die damaligen Grenzen der Spannweite und ließ die gotische Baukunst weit hinter sich. Diesen Auftrag hatte übrigens Brunelleschi zunächst arbeitsteilig mit seinem alten Konkurrenten Ghiberti erhalten, allerdings zog sich dieser in Achtung vor dem Genie Brunelleschis alsbald aus diesem Projekt zurück und überließ es ihm ganz.

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Das Geheimnis des Planungspentagramms
Peter Klink, der Schöpfer unseres "Orfeo spinario", ist nicht nur Kunstschmied aus Leidenschaft und ein begabter, inzwischen viel gefragter Künstler, ihm ist auch eine der kulturhistorischen Großtaten der Neuzeit zu verdanken, die mit der Schmiedekunst nichts zu tun hat, die wir aber an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen wollen:

Die Wiederentdeckung des Planungspentagramms

Dass die mittelalterlichen Städte Europas bezüglich ihres Grundrisses keine Zufallsprodukte sind, sondern Ausdruck einer filigranen Planung, die meist weit vor der Entstehung der Stadt selbst zu veranschlagen ist und sich in ihren späteren Mustern von Gebäuden und Straßenzügen an ein geordnetes geometrisches Muster mit einigen sozusagen sakrosankten, unverrückbaren Bezugspunkten band, ist an sich eine Entdeckung des kürzlich verstorbenen Freiburger Architekten und Stadtplaners Klaus Humbert (1929-2020). [Link]

Der renommierte Fachmann des Städtebaus hatte zu diesem Thema lebenslang geforscht und auch einige Werke in Schrift, Bild und Ton veröffentlicht, in denen er seine vielfältigen und z. T. auch komplizierten Planungsfiguren der mittelalterlichen Städte vorstellte. Wie nicht anders zu erwarten, haben die Veröffentlichungen Humberts zu ihrer Zeit auch Kontroversen gezeitigt, wobei jedoch nach unserem Dafürhalten die wenigen Gegenstimmen in ihrer schwachen Argumentation bislang nur eines demonstrierten, nämlich dass es ihnen schon an den Grundvoraussetzungen zum Verständnis der Entdeckungen Humberts mangelte.

Allerdings blieb Humbert eines nicht vergönnt, nämlich die Entdeckung des viel einfacheren und im Vergleich zu seinen relativ komplizierten Geometriemustern doch deutlich wirkmächtigeren Pentagramms als Peilungsfigur. Genau dies gelang Peter Klink, wobei ihm seine intensiven Studien früherer Jahre in Italien den entscheidenden Überblick verschafft hatten.

Die Pentagramm-Geometrie der mittelalterlichen Stadt Berching - nach dem Prinzip von Peter Klink. Durch Klick auf das Bild kommt man zur genaueren Beschreibung.

Als Humbert als hochbetagter Mann durch Peter Klink in einem persönlichen Gespräch von dessen Entdeckung der Pentagramm-Geometrie erfuhr, beschäftigte er sich auch damit und gab noch kurz vor seinem Tod freimütig zu, dass Herrn Klink mit dem Planungspentagramm der große Wurf gelungen sei, während er sich selbst mit seinen Überlegungen dem Geheimnis des Goldenen Schnittes, der dem Pentagramm innewohnt, nur angenähert hatte.

Es ist an dieser Stelle unmöglich, das zeitenübergreifende und fast alle Gebiete der bildenden Kunst und Architektur umspannende Prinzip der Pentagramm-Planung in seiner ganzen Bandbreite darzustellen. Wer sich näher damit beschäftigen will, sei auf die Erklärungen innerhalb unserer Homepage und auch auf den Internetauftritt Peter Klinks verwiesen. Mit Klick auf die Bilder gelangt man direkt zur jeweiligen Online-Präsentation.

"108° in der Wintersonne" - Homepage Peter Klinks.

"Pentagramme verändern die Welt", Homepage Werner Robls zu Klinks Wiederentdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung und zur Kulturgeschichte des Pentagramms.

Warum ist die Pentagramm-Planung für das Verständnis unserer eisernen Schmiedefigur des "Orfeo fiorentino" wichtig?

Weil sie unmittelbar auf die Entdeckung der Zentralperspektive durch Filippo Brunelleschi Bezug nimmt, die jetzt auch bei der Platzierung des "Orfeo" im Garten Berücksichtigung fand!

 Denn gerade in die Zeit um 1420, in der Orpheus und der Dornauszieher als antike Symbolfiguren menschlichen Verhaltens Einzug in die italienische Frührenaissance nahmen, fällt auch der Übergang im Planungsentwurf von Gemälden - weg von der Planung mit dem Pentagramm, hin zu den Raumwirkungen der Zentralperspektive.

Und wieder ist es ein Florentiner Künstler, der diesem Übergang als erstes mit einem großen Fresko in einer Kirche exakt demonstriert. Es handelt sich um den jung verstorbenen Maler Tommaso di Ser Giovanni di Mone Cassai, genannt Masaccio (1401-1428), und um sein Fresco "La Trinitá" in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz (entstanden zwischen 1425 und 1427). In diesem berühmten Fresko lassen sich, was den üblichen kunstgeschichtlichen Kompendien leider so gut wie nicht zu entnehmen ist, beide Konstruktionsprinzipien simultan nachweisen - eine Einmaligkeit in der Kunstgeschichte! Während der dargestellte Kirchenraum bereits der neu entdeckten Zentralperspektive unterworfen ist, bleibt die Bildebene des Kreuzes noch ganz dem althergebrachten Planungspentagramm mit seiner Zweidimensionalität unterworfen, das bis dahin auch nahezu alle Renaissancekünstler kannten und verwendeten! Hinterher scheint das Pentagramm nach unseren gemeinsamen Analysen jedoch nach und nach vergesssen worden zu sein, wobei die wenigen Ausnahmen die Regel bestätigen.

 An dieser Stelle soll nur die Darstellung eines Planungspentagramms als solche auf den Betrachter wirken; mit Klick auf das Bild gelangt man zu weiter gehenden Erklärungen.

Massacios Fresco "La Trinitá" in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz. Es vereinigt, wie zur Linken zu sehen ist, den Entwurf mit der neuen Zentralperspektive Brunelleschis und dem viel älteren Planungspentagramm.

Peter Klink hatte also allen Grund, in seiner Schmiedeplastik auch noch auf die Spezifika der von ihm wiederentdeckten Pentagrammplanung aufmerksam zu machen - z. B. mit dem fünfeckigen Gitterwerk im Schallloch der Laute.

Schließlich hatten wir beide uns über das Planungswerkzeug Pentagramm kennengelernt!

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Der "Orfeo spinario" - Zufall oder Notwendigkeit?



Ist der "Orfeo spinario" das Resultat einer banalen Internet-Bekanntschaft zwischen Künstler und Auftraggeber?

Mitnichten!

Schon von Anfang stand unsere Bekanntschaft unter einem besonderen Vorzeichen. So ging es zum Beispiel schon nicht mit rechten Dingen zu, als wir uns im Jahr 2015 kennenlernten - Peter Klink und meine Wenigkeit, zwei Männer im fortgeschrittenen Alter, die immerhin in über 200 km Luftlinie und 300 km Fahrstrecke Entfernung zueinander lebten und wirkten und bis dahin nichts miteinander zu tun gehabt hatten.

Ich glaube im Allgemeinen nicht an Telepathie, aber dennoch lässt es mich noch heute ein wenig schauern, wenn ich an die Abenddämmerung des 26. Juli 2015 zurückdenke. Ich hatte mich gerade im Rahmen meiner Studien zur Herzog Welf VI. und Burggraf Heinrich III. von Regensburg [Link] das erste Mal etwas näher mit Graf Rudolf von Pfullendorf, dem Schwiegersohn des Welfen, beschäftigt, dem ich später eine eigene Biographie widmete [Link], und ich war gerade dabei, den gräflichen Wirkort Pfullendorf, der mir bis dahin völlig unbekannt war, zu klären. In diesem Moment ploppte auf meinen Bildschirm die Meldung einer Email gerade aus jenem Pfullendorf auf: Ein gewisser Peter Klink nahm von dort mit mir Kontakt auf und stellte mir den Planungsentwurf der mittelalterlichen Stadt Berching mit Hilfe eines Pentagramms vor!

Was für ein unglaubliches Zusammentreffen!

Es muss Gedankenübertragung gewesen sein!

Man kann es an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft wir uns nach diesem eigenartigen Kennenlernen in personam begegneten. Zu einem regelmäßigen Treffen ist die räumliche Distanz zwischen uns einfach zu weit. Dennoch entstanden nach dem ersten Eindruck und einigen gegenseitigen Besuchen mit intensiver Diskussion der Pentagramm-Geometrie eine gegenseitige Wertschätzung und eine Art Ur-Vertrauen. Deshalb benötigten wie zum Kunstwerk des "Orfeo spinario", dessen Herstellungskosten immerhin im mittleren 5-stelligen Euro-Bereich liegen, auch keinen aufgesetzten Vertrag. Es galt von Anfang an das gesprochene Wort!

Was die Wiederentdeckung der Pentagramm-Geometrie anbelangt, so entwickelte sich allerdings eine Zeit lang eine Art von Zusammenarbeit per Home Office: Während sich Peter Klink bemühte, anhand von Beispielen die Spezifika der Pentagrammplanung mittelalterlicher Städte vorzustellen und mir dazu viele seiner Skizzen überließ, nahm ich mir vor, durch eine Internet-Präsenz seinen Erkenntnissen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Außerdem verfolgte ich die Pentagramm-Planung, die ja nicht nur Stadtpläne, sondern z. B. auch Gebäuderisse, Gemälde und Bodenstrukturen umfasst, in ihren Anfängen so weit zurück, bis ich schließlich im 8. Jahrtausend vor Christus (!) landete. Besonders in der altägyptischen Geschichte fanden sich dann auch entsprechende Bildvorlagen, wie Planungspentagramme einst handwerklich aufgespannt wurden. [Link]

Wer das alles im Detail nachlesen und überprüfen will, sei auf das vorherige Kapitel zum Planungspentagramm verwiesen, wo man weitere Links findet! In der Fachliteratur geht man leider zu diesem wichtigen Thema völlig leer aus.

Erst lange nach unserem Erstkontakt fiel es mir wie Schuppen von den Augen und mir wurde klar, dass Peter Klink, jener ebenso beschlagene wie bescheidene Mann, mit seinem unerhörten Erkenntnissen zur Stadtplanung, obendrein ein gefragter Künstler war, der seine meist lebensgroßen Schmiede-Plastiken inzwischen in fast allen Städten Oberschwabens hinterlassen hatte!

Aus dieser relativ späten Erkenntnis reifte in mir dann irgendwann im Jahr 2017 der Entschluss, Peter Klink um die Anfertigung einer weiteren Schmiedefigur für unserem Garten zu bitten. Schließlich war ich meiner Frau Oksana das schon lange versprochene Geburtstagsgeschenk einer Gartenstatue schuldig.

Da ich mich bis dahin in meinem historischen Hobby schwerpunktmäßig mit Männern beschäftigt hatte, die als "Aussteiger des 12. Jahrhunderts" früher oder später den Habit eines Mönches überstreiften - Peter Abaelard, Herzog Welf VI., Burggraf Heinrich III. von Regensburg und Graf Rudolf von Pfullendorf -, stellte ich mir als Modell für eine Gartenstatue einen entsprechend geschmiedeten Mönch in seiner Kutte vor, welcher sich auf einem Stein in unserem Garten niedergelassen hatte und vor sich hin sinnierte.

Ein sitzender Mönch in seiner Kutte ist allerdings ein gestalterisches Problem. Nachdem wir hierzu einige Entwürfe ausgetauscht hatten, konnte mich am Ende die Pose nicht mehr befriedigen, engte sie doch sichtlich den Bewegungsspielraum des Künstlers ein. Konkret: Mangels sichtbarer Körperkonturen in einem körperlangen Gewand drohte die geplante Figur in eine Art von menschlichem Fass zu münden.

Das war nicht der Zweck des Vorhabens - und so gab ich Peter Klink am Ende die Planung der Schmiedearbeit gänzlich frei. Das heißt, er konnte ab sofort nach eigenen Ideen schalten und walten, wie er wollte!

Dem war gut so - und es entstand daraus nun jene Figur, welche der Leser bereits ausführlich kennengelernt hat: ein fahrender Sänger und Spielmann aus Florenz namens "Orfeo", der sich als "spinario" niedergesetzt hatte, um einen Dorn aus seiner Fusssohle zu ziehen - oder der in seinem Handeln das Problem eines Dorns nur vorgab - gerade so, wie es einst Filippo Brunelleschi intendiert hatte!

Zum Planungszeitpunkt wusste ich allerdings noch so gut wie nichts davon! Peter Klink hielt sich anfangs ziemlich bedeckt, sprach nur über das Motiv des Dornausziehers und ließ andere Aspekte beiseite. Aber nach und nach wurde mir klar, welch facettenreiche Figur aus seiner Hand entstand!

Sicher, der Kunstschmied saugte sich sein Modell nicht einfach aus den Nägeln. Ganz im Gegenteil, er nahm mit seinem Entwurf gezielt Bezug auf meine Interessen und unbewusst auch auf jene früheren Diskussionen, bei denen Brunelleschis Dornauszieher, dessen Entdeckung der Zentralperspektive und im Allgemeinen die florentinische Renaissance wiederholt zur Sprache gekommen waren. Vielleicht sollte man hier anfügen, dass Peter Klink 1989/90 einen Teil seiner Ausbildung zum Kunstschmied in Venedig und Florenz zugebracht hatte, um sich u. a. am Beispiel der dortigen Kunstwerke entsprechend weiterzubilden.

Dennoch frage ich mich heute, was Peter Klink dazu brachte, mit seinem Laute spielenden Dornauszieher einen florentinischen Orpheus zu produzieren.

Musik hatte in unseren vorherigen Unterhaltungen jedenfalls keine große Rolle gespielt! Meine Recherchen zu Gluck hatte ich Peter Klink gegenüber nur beiläufig erwähnt, ihm selbst war wie vielen Zeitgenossen der Barockkomponist weitgehend unbekannt geblieben, so dass er auch aus dessen Oper "Orfeo ed Euridice" jedenfalls nicht die entscheidende Motivation bezogen haben kann.

Im Übrigen wussten weder er noch ich selbst zum Zeitpunkt der Planung, dass wir kurze Zeit später das wahre Geburtshaus Christoph Willibald Glucks in Weidenwang erstehen und zu einem weiteren Lebensschwerpunkt ausbauen würden.

So muss es pure Intuition, quasi das vorausahnende Genie des wahren Künstlers gewesen sein, das Peter Klink mit diesen lebendigen Orpheus aus hartem Schmiedestahl symbolhaft vorwegnehmen ließ, was erst deutlich später Realität und unser Lebensinhalt wurde!

Denn erst mit dem Gluckhaus-Projekt der Jahre 2019/20 und den damit verbundenen Studien stieg der fahrende Sänger - wohlgemerkt in der italienischen Variante "Orfeo"! - für uns zur zentralen Projektionsfigur Gluck'scher Musik auf - aufgrund der berühmten Gluck'schen Reformoper von 1762.

Genau mit dem Gluck'schen Orpheus und seinem Versagen, dem ich bereits im Oktober 2013 einen Vortrag in der Literaturnacht Berching gewidmet hatte [Link], wollen wir uns am Ende unter dem Aspekt der Verhaltenslehre à la Tinbergen und Lorenz noch einmal beschäftigen:

In der Sage wie in der Oper Christoph Willibald Glucks kann Orpheus den schweren Konflikt zwischen Appetenz - herzliche Tröstung der an seiner Liebe zweifelnden Eurydike - und Aversion - Befolgung des Götterwillens und des Sich-Fernhalten-Müssens - nicht auflösen. Er er verliert in einer Kurzschlusshandlung, bei der der Verstand völlig ausgeschaltet ist, nicht nur seine Contenance, sondern durch seine Zuwendung auch seine Gattin. Dass dies in der Oper nicht, wie in der Sage gewollt, für immer und ewig war, ist nur dem Kunstgriff des Librettisten Ranieri de Calcabigi und seinem Anbiedern an den Publikumsgeschmack von 1762 zu verdanken.

Hätte sich jedoch - so wollen wir das Gedankenexperiment zu Ende führen - Orpheus wie unsere Schmiedefigur zu einer Übersprunghandlung hinreissen lassen und hätte er sich im entscheidenden Moment hingesetzt, um z. B. einen fiktiven Dorn aus der Fusssohle zu ziehen oder vielleicht auch nur an seiner Laute herumzunesteln, anstatt sich seiner Gattin zuzuwenden, dann hätte vielleicht Eurydike in ihrer herzzerrreissenden Klage innegehalten. In diesem Fall wäre die Geschichte um das Liebespaar und damit auch die Gluck'sche Oper ganz anders, nämlich von Natur aus glücklich verlaufen. Orpheus und Eurydike wären am Ende vereint geblieben, und Calzabigi hätte sich seine für heutige Zuschauer etwas kitschige Volte mit dem eingreifenden Apollon sparen können!

Das ist die Quintessenz der Geschichte, die unser origineller "Orfeo spinario" verkörpert, ein geradezu lebenserhaltendes Prinzip: Manchmal darf das eigene Ich vorgehen - womit sich alle Selbstlosigkeit und Liebe relativiert!

Ziehen wir am Ende auch bezüglich der Eingangsfrage mit einem Augenzwinkern Bilanz:

Die verschlungenen Wege, die Peter Klink zu jener Projektionsfigur aus geschmiedetem und verzinktem Stahl, so dauerhaft und nachhaltig wie Gluck'sche Musik, geführt haben, lassen eigentlich den Glauben an einen Zufall nicht zu. Es muss Notwendigkeit gewesen sein, wir hatten für die Tragödie des Orpheus ganz offensichtlich eine originellere Lösung zu finden, als sie Gluck zur Verfügung stand! Womit die vom Nobelpreisträger Jacques Monod gestellte Eingangsfrage "Zufall oder Notwendigkeit" klar zugunsten des letzteren beantwortet ist: Es sollte so kommen, wie es gekommen ist; der "Orfeo spinario" ist unser gemeinsames Karma!
 

Dir, lieber Peter, danken wir an dieser Stelle herzlich für Deine Mühen um diese Figur - und wünschen Dir weiterhin viel Inspiration und eine glückliche Hand bei all Deinen künstlerischen Projekten!

Werner Robl, Berching, den 1. November 2021.
Ein Hinweis am Ende: Wir sind gern bereit, interessierten Besuchergruppen nach Absprache den "Orfeo spinario", der motivisch auch gut zur Gluckstadt Berching passt, im Garten sozusagen "live" vorzustellen und bitten ggf. um Kontaktaufnahme!

 

Nachtrag: Inzwischen gibt es zum Berchinger "Orfeo spinario" auch ein regionales Presseecho. Zum Lesen des entsprechenden Artikels bitte auf das folgende Bild klicken:

Im Südwestdeutschen Rundfunk ist ein weiterer Kurzfilm über die Herstellung des "Spinario" erschienen: SWR Landesschau vom 14. Dezember 2021, 18 Uhr 50. Leider ist in diesem 4-Minuten-Kurzclip "Pfalz" mit "Oberpfalz" verwechselt und die Besprechung der facettenreichen Symbolik fast ganz beiseite gelassen worden: