Unvergänglicher Horaz

 
Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Vergnügen gehabt, das mir von Anfang an eine horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze seine Kraft ausströmt, dies Minimum im Umfang und Zahl der Zeichen, das damit erreichte Maximum in der Energie der Zeichen - dies alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence.

Friedrich Nietzsche

 

Mehr als 2 Jahrtausende sind vergangen, seit im Jahre 23 v. Chr. der römische Dichter Quintus Horatius Flaccus 88 Gesänge, zusammengefaßt in 3 Büchern, veröffentlicht hat. Es gilt hier nicht, das Leben des Dichters, das literarische Gesamtwerk zu interpretieren; die horazische Odensammlung ist als epochemachendes Corpus in der abendländichen Lyrik längst anerkannt. An dieser Stelle soll lediglich eines der schönsten Gedichte stellvertretend für die anderen bekannt gemacht werden. Es ist im Versmaß des Asklepiades verfaßt  (Asclepiadeus maior, d. h. der in der Mitte um einem Choriambus erweiterte größere Vers des Asclepiades: - - - .. - | - .. - | - .. - .. ) und strömt eine tiefe, die Zeiten überdauernde Lebenserfahrung aus:

Aus echter Religiosität heraus und dennoch agnostisch lehnt der Dichter die Fragen nach dem Ende und Zweck des menschlichen Lebens ab. Er fordert aber auch auf, dem Aberglauben oder Ersatzideologien abzuschwören, und propagiert stattdessen die Ergebenheit ins individuelle Schicksal. Mit Metaphern des Weinbaus - filtern, schneiden, pflücken - empfiehlt Horaz eine bewußte und überlegte Lebensführung, unter Verzicht auf hochfliegende Pläne und weitreichende Hoffnungen. Entscheidend sei die sinnvolle Gestaltung der Gegenwart, denn schon die nahe Zukunft sei ungewiß. Das ebenso knappe wie vieldeutige Carpe diem spiegelt in seinen Facetten wieder, was Friedrich Nietzsche obenstehend enthusiastisch schildert. Es ist als zeitüberdauernde Weisheit in die Literaturgeschichte eingegangen!