Peter von Celle: Auseinandersetzung mit Heloïsa

© Dr. Werner Robl, Neustadt/WN, Juli 2002

Heloisa im Dialog, aus: Guizot, Lettres d'Abailard et d'Héloïse, Paris 1839Der folgende Brief der Abtes von Montier-la-Celle bei Troyes, Peter von Celle (1115-1183), an eine namentlich nicht genannte Leiterin eines Nonnenkonvents wurde erstmals von J. Sirmond unter der laufenden Nummer 25 als einer von 169 Briefen im Jahre 1613 veröffentlicht. J. P. Migne übernahm diesen Brief später unverändert in seine Patrologia Latina, Band 202. J. Sirmond hatte für seine Edition ein Codex aus Saint-Remi in Reims vorgelegen, welcher vermutlich die originale Briefsammlung des Abtes darstellte, aber leider bei einem Brand der Bibliothek im Jahre 1774 verloren ging (R). Es existieren jedoch von Peters Briefwechsel noch zwei weitere frühmittelalterliche Manuskripte: Oxford, St. John's College 126 aus dem frühen 13. Jahrhundert (O) und BM Valenciennes 482 aus dem späten 12. Jahrhundert (Val). Beide Sammlungen O und Val enthalten nur Teile des frühen Briefcorpus; sie sind jedoch besonders wertvoll, da sie auf einen gemeinsamen Archetypus zurückgehen, den mit einiger Wahrscheinlichkeit Johann von Salisbury, Peters enger Vertrauter und Freund, im Jahre 1170 aus Saint-Remi mit nach England brachte (Zur Werkgeschichte siehe: Haseldine, J., The letters of Peter of Celle, Oxford 2001). Die Lebensbeschreibung Peters von Celle findet sich innerhalb dieser Seiten an anderer Stelle.

Während J. Sirmond die unbekannte Adressatin des Briefes 25 mit Äbtissin Mathilda von Fontevraud gleichsetzte und damit eine Verbindung zum nachfolgenden Brief Nr. 27 herstellte, trennte das Oxforder Manuskript aus dem Besitz Johanns von Salisbury die beiden Briefe klar voneinander. Außerdem wies Brief Nr. 25 in diesem Manuskript eine interessante, handschriftliche Randnotiz auf:

Abbatisse de paraclito que pro fugitivo rogabat - an die Äbtissin des Paraklet, die für einen Flüchtigen bat.

J. Haseldine plädierte dafür, diese Zuordnung als zutreffend anzunehmen. Heloïsa leitete im Abfassungszeitraum des Briefes den Paraklet-Konvent, welcher von Montier-la-Celle nur knapp vierzig Kilometer entfernt lag. Auch der innere Gehalt des Briefes sprach für diese Einschätzung, denn der Sachverhalt, um den es ging - eine Auseinandersetzung um den Leiter des Cellenser Priorates Saint-Ayoul in Provins - ließ eine wie auch immer geartete Verbindung zu Fontevraud nicht erkennen.

All dies ist für einen Abaelardisten eine hochinteressante Information - und Grund genug, sich mit dem Brief Peters von Celle etwas näher zu beschäftigen.

Zunächst folgt der lateinische Wortlaut des Briefes 25 nach der kritischen Edition Haseldines, ergänzt um eine deutsche Übersetzung. Es schließt sich der mit Brief 25 in innerem Zusammenhang stehende Brief 26 an - gerichtet an den namentlich nicht genannten Prior von Saint-Ayoul -, sowie zum Vergleich die Salutatio des Briefes 27, adressiert an Mathilda von Fontevraud. Sämtliche lateinischen Texte stammen aus: Haseldine, J., The letters of Peter of Celle, Oxford 2001.

 

Brief 25 (aus: Haseldine, J., The letters of Peter of Celle, Oxford 2001, Seite 80-82)

Domine sue servus suus, spiritum rectum.

Quod Filius hominis non venerit pacem mittere in terram sed gladium, et quod Spiritus sanctus super principes nostros in igne descenderit, quodque Ysaac ignem pene et ligna discipline nostre portaverit, scienti refero. Hec etiam fortassis ratio quare Iacob in benedictione filiorum Ioseph manus transversauerit, quatinus singulorum non nativitatis ordo aut privilegia sed meritorum et morum attendantur officia. Virtute namque discretionis servata et misericordia in sua triumphat patria et iustitia congrue disponit totius regni gubernacula. Cum itaque palatium ingredimur misericordie, flores et fructus decerpimus olive. Cum ad tribunal iustitie assistimus, palmam reportamus et de pomis solis et lune satiamur. Hec in regine nostre vestimento delectabilis varietas ad tollenda fastigia filiorum hominum Dei immutabilis mutabilitas et eterna alteritas. Idem namque iustus et misericors Deus non varietate proprie substantie dicitur, sed mutabilitate culpe nostre vel penitentie talis vel talis nominatur. Iohannes in aqua tantum baptizat nec vulnus originalis peccati sanat; Christus Iesus in spiritu iudicii et spiritu ardoris, et celum reserat. Omnia, inquit Apostolus, mundantur in sanguine, et non fit remissio nisi in sanguine. Neque itaque vestimentum mixtum sanguine sit in combustionem propter peccati transgressionem. Christus septies contra velum sanctuarii proprio digito suum aspersit ad emundationem criminum nostrorum sanguinem. Hoc nos docuit unus magister noster qui in celis est, hoc legislator in figura monuit, non auferes, inquiens, sal federis Dei tui in omni sacrificio. Satis dictum est sapienti.

Priorem illum sancti Aigulfi excuso quia quod facere potuit et debuit fecit. Si aliud vel aliter fecisset offensam nostram incurreret.

Vale.

Proderit tamen peccanti precedente penitentia oratio vestra et sancti conventus vestri.

Iterum vale.

Seiner Herrin, ihr Diener: Einen aufrechten Geist.

Ich antworte einer Frau, die weiß, dass der Menschensohn nicht gekommen ist, um Frieden auf die Erde zu schicken, sondern sein Schwert, (Matthäus 10, 34) dass der Heiligen Geist zu unseren Führern im Feuer herabgestiegen ist, (Apostelgesch. 2,3) und dass Isaak das Feuer der Strafe und die Scheite unserer Zucht getragen hat. (Genesis 22, 6) Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb Jakob bei der Segnung seiner Söhne insofern die Hände zu Joseph gewandt hat, (Genesis 49, 1-28) als bei Einzelpersonen nicht der Rang oder die Vorrechte der Geburt, sondern die Werke, die aus ihren Verdiensten und Sitten herrühren, beachtet werden. Denn wenn die Tugend der Unterscheidung beachtet worden ist, triumphiert das Erbarmen in seiner Heimstatt und die Gerechtigkeit versetzt die Führung des ganzen Königreiches in die angemessene Ordnung. Wenn wir deshalb den Palast des Erbarmens beschreiten, pflücken wir die Blüten und Früchte des Ölbaums. Wenn wir vor dem Richterstuhl der Gerechtigkeit stehen, empfangen wir den Siegespreis und werden satt an den Früchten der Sonne und des Mondes. (Deuteronomium 33, 14) Diese erfreuliche Abwechslung am Gewand unserer Königin (Psalm 45, 10, 14-15) ist geeignet, die Überhebung der Menschensöhne zu beseitigen: Gottes unveränderliche Wandelbarkeit und ewiges Anderssein. Denn ein- und derselbe gerechte und barmherzige Gott heißt nicht aufgrund der Vielfalt der ihm eigenen Substanz so, sondern er wird wegen der Veränderbarkeit unserer Schuld oder Reue einmal mit dem einen oder anderen Namen belegt. Johannes tauft nur mit Wasser und heilt nicht die Wunde der Erbsünde. Jesus Christus aber tauft im Geiste der Gerechtigkeit und im Geiste der Liebesglut und öffnet den Himmel. (Matthäus 3, auch Markus 1, 1-11, Lukas 3, 1-22, Johannes, 1, 6-36, Apost. 1, 6, 11, 16) Alles, sagt der Apostel, wird im Blut gereinigt, und es gibt keine Vergebung außer im Blut. (Hebräer 9, 22) Deshalb heißt es nicht, das mit Blut bespritzte Gewand soll verbrannt werden (Isaias 9, 5) - wegen der Übertretung in der Sünde. Sieben Mal verspritzte Christus sein Blut gegen den Vorhang des Heiligtums mit eigenem Finger, um unsere Vergehen zu läutern. (Levitikus 4, 6, 17) Dies ist die Lehre unseres einzigen Meisters, der im Himmel ist, dazu hat der Gesetzgeber im Gleichnis gemahnt, wenn er sagte: Entferne nicht das Salz des Bündnisses mit deinem Gott, bei jedem Speiseopfer. (Levitikus 2, 13) Damit sei einer Weisen genug gesagt. (Terenz, Phormio, III, 3.541)

Ich entschuldige jenen Prior von Saint-Ayoul. Denn er hat getan, was er konnte und musste. Wenn er etwas anderes getan oder in anderer Weise gehandelt hätte, hätte er sich unsere Rüge zugezogen.

Lebe wohl.

Dennoch wird dem Sünder vor seiner Buße Euer und Eures heiligen Konvents Gebet nützen.

Ein zweites Mal: Lebe wohl.

Brief 26: An einen Prior (aus: Haseldine, J., a.a.O., Seite 82-86)

Priori suo suus abbas.

Res humane qualiter in mente divina pensentur conspectibus hominum in hac volubilitate mundanorum absconditur. Solummodo angelica puritas his prout datur admiscetur archanis, ac de profundo misteriorum edocta quibus dignum videtur revelare sufficit. Interim temeritas nostra sic in se ipsa obscurata confunditur ut nec remota sensibus aliquatinus apprehendat nec saltem vicina cognitione perfecta contingat. Digna hec ultio in presumptorem ut et de preteritis arguatur et a futuris coherceatur. Timore huius periculi, mi dulcissime, admonitus, de presentibus quidem angor, et tamen futurorum presentiens caliginem vias incognitas reformido. Gratia vero divini auxilii, si affuerit, nec profunda pelagi pertimesco nec etiam queque intemptata arripere diffido. Etsi enim parum roborata trepidet affectio, poterit sine dubio consolidari insuperabili superni luminis patrocinio. O Iesu! Cui vanum fuit ad te confugere? Cui male cessit te et inter vepres herentem cornibus querere? Te quidem nec pietas deserit nec omnipotentia atque ob id tuis nec pium ferre recusas suffragium nec de impotentia pretendis suffugium. Sua potius perit quicunque periclitatur diffidentia quam tua inclementia. Nostro si dignaris obsequio mentem nostram compunge tactu interno et in funiculis amoris tui reduc a seculo et deduc in heremo. Tumultus non quiescat donec tanquam spumam ad littoris quieta nos eiciat. Fiat, fiat super nos misericordia tua, Domine. Non convertatur amaritudo potionis nisi omnia expurgaverit superflui humoris. Honoris ambitio, carnis delectatio, amicorum confabulatio, consanguineorum visitatio, subiectorum prelatio, maioris potestatis ostentatio, ut quid? Nonne his anima compeditur ne ad superna evadat? Nonne his complicatur ne virtutum pennis celestia petat? Et horum quidem finis erit; sed sine fine pena durabit. Alterum horum fieri necesse est, aut vincere hec aut ab his vinci, aut superare aut subdi, aut fugere aut includi. Sanius est igitur nudum enatare quam vestitum submergi, solum effugere quam cum multis periclitari. Quid, cor humanum, expavescis? Quid refugis? Fructus solitudinis non est quidem mollis est tamen fortis, non est pinguis est tamen dulcis, est durus sed in cortice, est acerbus sed in superficie, est novi saporis sed inchoantibus, est conterens dentes sed non consuescentibus. O cor humanum, cur times renovari? Cur abhorres reparari? Velis nolis hinc abire compelleris, velis nolis sine mora emigrabis. O cor excors, cur non curris ad Dominum cordis? Cur omnia colligis et te ipsum non colis? Dignitate precellis, potestate excedis, auctoritate quicquid creatum sub celo est evincis. Nobilitatis tue progenies quanti sit, ob ignobilem conversationem non attendunt qui post corpus suum te ponunt; exemplar tue formationis non meminerunt qui inter corpus et spiritum que sit differentia non animadvertunt. Natales tuos relege et de quam spectabili sis genere recole. Generi tuo maculam servitutis noli irrogare quia servitus tibi, non a te, debetur. Etenim tu in loco sublimi sedere, ceteri vero tibi debent assistere. Tuum est mandare, ceterorum ad mandatum venire vel pro contemptu vindictam excipere. Tuum est iniungere, subiectorum sine discrimine iniuncta effectui mancipare. Soli Deo si dignum prestiteris obsequium, tuum ad omnia valebit imperium.

Hoc interim confabulatorium omittam et tempus et locum constituam quo narrationes, rationes et allegationes utrinque liberius audiam.

Valete.

Seinem Prior, sein Abt.

Die Art und Weise, wie die menschliche Lage im Denken Gottes abgewogen wird, ist dem Anblick der Menschen in dieser Flüchtigkeit des Irdischen verborgen. Allein die Reinheit der Engel, soweit sie ihnen zuteil wird, vermengt sich mit diesen Geheimnissen, und - über die Tiefe des Mysteriums unterrichtet -, begnügt sie sich damit, sich denen zu enthüllen, derer sie würdig erscheint. Inzwischen verdunkelt sich unsere Unbesonnenheit in sich selbst und gerät damit derart durcheinander, dass sie weder die Dinge einigermaßen begreift, die den Sinnen entzogen sind, noch an die Dinge nach vollzogener Erkenntnis rührt, die wenigstens in der Nähe liegen. Dies ist eine angemessene Strafe für den überheblichen Menschen, dass er sowohl wegen vergangener Vergehen zur Rechenschaft gezogen, als auch von künftigen abgehalten wird. Aus Furcht vor dieser Gefahr, mein Liebster, ängstige ich mich allerdings bezüglich der gegenwärtigen Vorfälle, doch erst recht habe ich Angst vor den unbekannten Wegen, da ich die zukünftige Finsternis ahne. Doch dank der göttlichen Hilfe, wenn sie erst einmal zuteil geworden ist, schaudere ich weder vor den Tiefen des Meeres, noch zaudere ich, unkonventionelle Wege zu gehen. Denn auch wenn eine zu wenig stabile Stimmung mich zittert lässt, so wird sie doch zweifelsohne durch den unübertrefflichen Schirm des himmlischen Lichtes an Festigkeit gewinnen. O Jesus, wer hätte sich umsonst zu Dir geflüchtet? Wem erging es schlecht, wenn er Dich suchte - selbst wenn er mit dem Hörnern in Gestrüpp hängen blieb (Genesis 22, 13) ? Dich allerdings verlässt weder die Gnade noch die Allmacht und deswegen weigerst Du Dich auch nicht, den Deinen Deine gütige Fürsprache zu bringen, noch gibst Du die Zuflucht aus dem Unvermögen vor. Eher geht einer durch sein eigenes Misstrauen zugrunde als durch Deine Unbarmherzigkeit. Wenn Du unseren Gehorsam für würdig hältst, so rühre unser Herz durch Gewissensbisse, verstricke uns in Deine Liebe, entrücke uns der Welt und führe uns in die innere Einsamkeit. Der Aufruhr legt sich nicht, bis er uns gleichsam als Abschaum ans ruhige Gestade wirft. Dein Erbarmen komme; es komme über uns, oh Herr. (Ps. 33, 22) Der Kelch verliert nicht seinen bitteren Geschmack, ehe er nicht vollständig seiner überschüssigen Flüssigkeit entledigt ist. Das ehrgeizige Streben nach Ehre, das Vergnügen des Fleisches, das Geschwätz der Freunde, die Heimsuchung durch die Verwandtschaft, das Herausheben durch die Untergebenen, die Demonstration höherer Gewalt, was soll das? Wird durch all das seine Seele nicht gefesselt, zu Höherem aufzusteigen? Wird er dadurch nicht daran gehindert, auf den Federn der Tugenden gen Himmel zu reisen? Zwar wird all dies ein Ende finden, aber ohne Ende wird die Strafe dauern. Zwangsläufig passiert eines von beiden: Entweder dies zu besiegen oder von diesem besiegt zu werden, entweder zu gewinnen oder unterworfen zu werden, entweder zu entfliehen oder eingesperrt zu werden. Vernünftiger ist es also, nackt davon zu schwimmen, als bekleidet unterzugehen, allein zu entfliehen, als mit vielen in Gefahr zu geraten. Oh Menschenherz, was fürchtest Du Dich? Was entfliehst Du? Die Frucht der Einsamkeit ist zwar nicht weich, sondern hart; auch wenn sie nicht fett ist, so ist sie süß. Doch sie ist hart in der Schale und bitter an der Außenhaut, aber für die Anfänger ist sie von neuartigem Geschmack; denen jedoch, die sich nicht daran gewöhnen, reibt sie die Zähne ab. Oh Menschenherz, warum fürchtest Du Dich, erneuert zu werden? Warum schauderst Du davor zurück, verbessert zu werden? Wohl oder übel wirst Du gezwungen, von hier zu verschwinden, wohl oder übel wirst du ohne Aufschub uns verlassen. Oh unverständiges Herz, warum läufst Du nicht zum Herrn des Herzens? Warum sammelst Du alles und pflegst Dich nicht selbst? An Würde stichst Du hervor, an Macht ragst du heraus, an Autorität übertriffst du, was auch immer unter dem Himmel erschaffen ist. So vornehm auch Deine Abstammung ist, wegen Deines nicht standesgemäßen Umgangs beachten Dich diejenigen nicht, die Dich hinter ihren Körper stellen. Als Dein Ebenbild denken sie nicht an Deine Gestalt, sie nehmen nicht war, wer zwischen Körper und Geist liegt, worin der Unterschied besteht. Zähle Deine Jahre und mache Dir klar, von welch äußerlicher Art Du bist. Ich will nicht Deinem Geschlecht den Makel der Gefolgschaft auferlegen, weil die Gefolgschaft Dir, nicht von Dir geschuldet wird. Denn auch wenn Du an erhabener Stelle sitzest, müssen Dir in der Tat die anderen zur Seite stehen. Das Deine ist, zu befehlen; die anderen haben die Aufgabe, auf Befehl zu kommen oder die verdiente Strafe zu empfangen, wenn sie den Befehl verachten. Deine Aufgabe ist es, Aufträge zu erteilen, die Pflicht Deiner Unterworfenen aber, unterschiedslos die Aufträge in die Tat umzusetzen. Wenn Du Gott allein die würdige Gefolgschaft leistest, wird Deine Herrschaft zu allem im Stande sein.

Dieses Geschwätz aber möchte ich inzwischen vergessen und Zeitpunkt und Ort festlegen, um lieber von Dir selbst die Berichte, Überlegungen und die beiderseitigen Einwände zu hören.

Lebt wohl.

Brief 27: An Mathilda von Fontevraud - Salutatio (aus: Haseldine, J., a.a.O., Seite 86)

Venerabili abbatisse Fontisebraldi Matildi, frater Petrus Cellensis abbas, suus in Christo amicus, gratiam et gloriam sponsi eterni. Der verehrten Äbtissin Mathilda von Fontevraud, Bruder Peter, Abt von Montier-la-Celle, ihr Freund in Christus: Gnade und Ruhm des ewigen Bräutigams!

 

Brief 25 - gerichtet an die Leiterin eines Frauenordens - beginnt fürwahr mit einer ungewöhnlichen Grußformel: Domine sue servus suus, spiritum rectum - Seiner Herrin ihr Diener: einen aufrechten Geist! Ähnlich ungewöhnlich ist die knappe, grußlose Überschrift des zweiten Briefes: Priori suo suus abbas - Seinem Prior sein Abt. Wohl hatte die Oxforder Briefsammlung hier als Abtnamen ein verderbtes G. aufgewiesen, doch scheint dies wie bei einigen anderen dieser Briefe eine fehlerhafte spätere Anfügung zu sein - aus einer wenig informierten Hand, die den eigentlichen Autor der Briefe mit Walter (Gualterius) von Montier-en-Der oder Guy of Southwick verwechselte.

Wann immer sich der Abt von Montier-la-Celle in seinen Briefen an einen Ordensleiter wandte, so tat er das unter Nennung des eigenen Namens und des Namens des Adressaten - meistens verbunden mit Höflichkeitsfloskeln, gehalten in wärmstem Ton. Von den 74 Briefen aus der Zeit vor dem Abbaziat von Reims zeigen überhaupt nur dreizehn Briefe einen verkürzten Gruß, in dem mitunter die Eigennamen und die eigentliche Salutatio fehlen. Allein zehn davon waren an enge Freunde gerichtet - z. B. an R[ainer] und Nikolaus von Clairvaux (Bernhards Sekretär) und an Johann von Salisbury. Hier dominierte das vertrauliche Suo suus, d.h. dem Seinen der Seine - einschließlich geringfügiger Varianten. Eine Namensnennung war in diesen inoffiziellen Schreiben nicht nötig, da sich beide Seiten offenbar bestens kannten. Bei einem Brief fehlte die gesamte Grußformel, was wohl eher als Auslassung des Kopisten zu verstehen ist. In der Reimser Briefsammlung hatte J. Sirmond den Grußsatz des Öfteren einfach weggelassen und durch eigene Adress-Angaben ersetzt. Wurde die originale Grußformel jedoch von ihm wiedergegeben, so war sie ausnahmslos sehr vollständig und höflich bzw. herzlich formuliert. Auch die Leiter der eigenen Priorate wurden von Abt Peter in der Regel namentlich und freundlich angesprochen (siehe Brief 41).

Damit handelt es sich bei den hier interessierenden Briefen 25 und 26 aufgrund der knappen Eingangsworte um einen Ausnahmefall. Es ist nicht zu übersehen:

Abt Peter wollte bewusst in beiden Schreiben die Namen von Adressaten und Adressanten nicht nennen. Dies hatte wohl triftige Gründe. Die Inscriptio - domine sue - und die Intitulatio - servus suus - in Brief 25 sind zwar höflich gehalten, aber in ihrer Unpersönlichkeit nicht zu übertreffen - kein karissimus oder dilectissimus wie in den anderen Briefen findet sich hier. Noch frappierender ist das, was als Salutatio folgt: Spiritum rectum - einen aufrechten Geist. Diese nüchterne Formulierung verwandte der Abt in keinem anderen seiner Briefe; sie grenzt in Zusammenhang mit dem folgenden Kontext fast an Invektive - unterstellt sie doch, dass der Adressatin der rechte Geist fehlte!

Dieser auffallend distanzierten Eingangsformulierung nach konnte Brief 25 keinesfalls an Mathilda von Fontevraud gerichtet sein, wie von J. Sirmond einst unterstellt. Die Äbtissin hätte als hochadelige Dame eine derartige Anrede kaum akzeptiert. Als Tochter Fulkos V., des Grafen von Anjou (1109-1131) und nachmaligen Königs von Jerusalem (1131-1142), sowie als Schwester Graf Gottfrieds Plantagenêt stammte sie aus höchstem Hause. Schon in jungen Jahren war sie mit dem englischen Thronfolger Wilhelm Aetheling liiert worden, hatte diesen jedoch beim Schiffsuntergang der Blanche Nef im Jahre 1120 auf tragische Weise verloren. Einige Zeit später entschied sie sich für eine geistliche Laufbahn und trat um 1128 in den Orden von Fontevraud ein; im Jahre 1149 folgte sie nach dem Tod der ersten Äbtissin Petronilla von Chemillé ins Abbaziat von Fontevraud nach. Sie amtierte bis 1155. Wenn Abt Peter von Celle sich an diese hochrangige Frau, die obendrein den größten Frauenkonvent der damaligen Zeit leitete, wandte, befleißigte er sich eines anderen Tons, wie die oben wiedergegebene Grußformel in Brief 27 zeigt. Der überschwängliche Tenor zieht sich übrigens durch den gesamten Brief.

Auch in der Durchführung der Briefe 25 und 26 sind deutliche Unterschiede zu den anderen Briefen Peters von Celle zu erkennen: Zwar weisen sie wie fast seine gesamte Korrespondenz eine sehr lange, manchmal weitschweifige Narratio auf. Diese Hinführungen beschäftigten sich meistens mit theologischen Themen und trugen die Züge eines Sermo, während die persönliche Botschaft oft in nur einen Schlusssatz abgehandelt war. Doch damit folgte Abt Peter dem Stil seiner Zeit: Nahezu keine Epistel des Frühmittelalters trug ausschließlichen Informationscharakter oder waren gar ein Wegwerfartikel. Letzteres verbot allein das teure Pergament, auf welchem sie geschrieben waren. Im vorliegenden Fall waren die Briefe als Erbauungsschriften an eine monastische Öffentlichkeit gerichtet und wurden als Ermahnung - Admonitio - oder Ermunterung - Adhortatio - im Kreuzgang oder Kapitelsaal des Empfängers laut verlesen. Anschließend bewahrte man sie in Codices auf, damit sie die Zeiten überdauern und auch kommenden Generationen als Lektüre dienen konnten. So finden sich in ihnen konkrete Probleme meist nur angedeutet und auf ihre spirituelle Quintessenz reduziert - so auch in den obigen Briefen. Weitschweifig und mit allegorischen Anspielungen durchtränkt, nimmt diese Exposition fast neunzig Prozent des Umfangs ein. Genau wegen des Öffentlichkeits- und Nachlass-Charakters dieser Schreiben hatte Abt Peter in den Briefen 25 und 26 bewusst auf die Nennung von Namen verzichtet: Sie betrafen ganz offensichtlich eine delikate, unangenehme und womöglich kompromittierende Angelegenheit. Dem Wunsch ihres Verfassers nach und im Gegensatz zu den sonstigen Briefen sollten sie nur in der Anonymität überdauern!

Dieses bewusste Inkognito hatte jedoch der wohl informierte Übermittler - vermutlich Johann von Salisbury - in der für England bestimmten Kopie gelüftet - indem er an Brief 25 den eindeutigen Vermerk anbrachte, dass das ungewöhnliche Schreiben an Heloïsa, die Äbtissin des Paraklet, gerichtet war!

Was sich in der Grußformel des Briefes an Heloïsa bereits andeutete, findet im weiteren Wortlaut seine Bestätigung: Abt Peter war über ein vorangegangenes Verhalten oder Schreiben Heloïsas indigniert. Falls dies ein Brief war, so hatte er ihn bewusst nicht in die Briefsammlung aufgenommen. Nach den Regeln der Ars dictaminis, die Peter von Celle sehr wohl beherrschte, hätte zu Beginn die Captatio benevolentiae erfolgen müssen; mit freundlichen und erbaulichen Worten hatte man die Zuneigung und Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund muss es nun geradezu schockieren, mit welch grimmigen, ja geradezu martialischen Worten Abt Peter das Strafgericht und das Schwert Gottes über den sündigem Menschen herabrief. Auch wenn er die strafende Gerechtigkeit und das Erbarmen des ewigen Richters nebeneinander stellte, so ging es ihm doch primär um die Betonung des Ersteren: Zitate aus dem Alten und Neuen Testament beschworen die Blutschuld des Sünders und rechtfertigten die Sühne im Blut. Die Rede war hier von der strafenden Gerechtigkeit gegenüber einem Delinquenten, der sich über sich selbst überhoben hatte. Nicht sein Rang und Name war für den Abt entscheidend, sondern die inneren sittlichen Werke und die Art der Reue. Diese Aussagen verpackte Peter von Celle im Einleitungs- und Schlusssatz mit dem spitzen Verweis, dass er all dies einer Frau sage, die wohl weise genug sei, zu verstehen, was er meinte.

Hierauf folgte in lakonischer Kürze und in unterkühltem Ton die eigentliche Antwort des Schreibens - in nun zwei Sätzen, gefolgt von einem jeweiligen Valete:

Der Prior von Saint-Ayoul in Provins habe nicht anders handeln können, als er es tat; andernfalls hätte er sich die strenge Rüge seines Abtes zugezogen. Und: Die Nonnen sollten für den Delinquenten beten. Das sei genug für diesen. Über den eigentlichen Sachverhalt, um den es ging, erfährt der heutige Leser kein Wort.

Dennoch sind einige Rückschlüsse erlaubt:

Heloïsa hatte sich ganz offenkundig zuvor bei dem Abt von Montier-la-Celle massiv über das Verhalten des Priors von Saint-Ayoul beschwert. Es ging um einen Flüchtigen - möglicherweise um einen Mönch des Priorats von Rang und Namen, der sich den Anordnungen seines Vorgesetzten widersetzt hatte, und wegen der drohenden Strafe geflohen war und Heloïsa um Hilfe gebeten hatte. Der gut informierte Übermittler, resp. Johann von Salisbury, hatte aus mündlicher Information davon erfahren und vermerkt: Pro fugitivo rogabat - sie bat für einen Flüchtigen. Abt Peter hatte in reichlicher Distanz Heloïsa geantwortet: Der Delinquent dürfe wegen seiner vorherigen Überheblichkeit nicht der gerechten Strafe Gottes entgehen, und der besagte Prior von Saint-Ayoul habe ganz in seinem Sinne gehandelt. Wenn Peter mit dem Ratschlag schloss, die Nonnen des Paraklet sollten für den reuigen Sünder beten, so muss dies in den Ohren der Paraklet-Nonnen eher zynisch geklungen haben.

Der Tenor des Briefes 26 passt ganz zu diesem Sachverhalt: Wiederum findet sich eine verkürzte, anonymisierte Grußformel; wiederum enthält er eine ebenso ausführliche wie anspielungsreiche Adhortatio - diesmal gerichtet an die Mönche und den Prior von Saint-Ayoul:

Peter von Celle formuliert in der bekannten Manier: Zunächst prangert er die Unzulänglichkeit des Menschen an, die Geheimnisse Gottes zu erfassen. Dann spricht er von der gerechten Strafe für denjenigen, der sich über Gott erhebt. Es folgt ein kurzer Einschub, in dem der Abt sorgenvoll darüber reflektiert, welch beängstigend schwierige Zeiten in Aussicht stünden. Doch dann kommt es zu einer eigenartigen Verschränkung der thematisierten Personen: Wenn Peter von Celle noch vom notwendigen inneren Rückzug in die Einsamkeit spricht und unsinniges Streben nach Ehre, Einmischung einflussreicher Leute oder nutzloses Aufbegehren der Verwandtschaft anprangert, so scheint er sich damit immer noch auf die inkriminierte Person bezogen zu haben. Doch fast unmerklich wechselt der Abt dann auf die Person des Priors, indem er ihm bestätigt, dass ihm Autorität und Befehlsgewalt gegeben seien, derer er sich nicht nur bedienen dürfe, sondern auch müsse. Der Exkurs endet mit der Feststellung, die unterstellten Brüder hätten all dessen Anordnungen zu folgen. Im Schlusssatz vermerkt Abt Peter, er wolle nicht weiter auf dummes Geschwätz hören, sondern alles in einem Gespräch unter vier Augen bereden und die Argumente beider Seiten hören.

So wenig wir über den Delinquenten und den zugrunde liegenden Vorfall erfahren, so erweitern diese Briefe doch unsere Erkenntnisse über Heloïsa - besonders zu einer Zeit ihres Lebens, zu der wir kaum über Primärquellen verfügen:

Beherzt hatte sie sich als Leiterin des ihr unterstellten Konvents für einen Hilfsbedürftigen eingesetzt und war dabei auch nicht dem Konflikt mit einem einflussreichen Abt aus dem Wege gegangen. Zwei Charakterstärken Heloïsas werden daraus deutlich, die sich mitunter auch aus ihren Briefen und anderen Quellen rückschließen lassen: zum einen Mitmenschlichkeit und Verständnis für die Nöte eines bedrängten Menschen, zum anderen jedoch ihre Prinzipientreue und ihr Mut, sich einmal erkanntem Unrecht entgegenzustellen. So wirft Brief 25 ein erhellendes Schlaglicht auf Heloïsas Leben im Paraklet - und deutet damit an, dass ihre späte Biographie nicht weniger interessant sein dürfte als die ihres einstigen Gemahls - eines ausführlichen Berichts wert, wenn es nur gelänge, die vielen Lücken zu füllen.

An dieser Stelle der Ausführungen angelangt, sei jedoch auch eine weiter gehende, reizvolle Spekulation erlaubt: Warum eigentlich sollte sich Heloïsa so couragiert für einen Flüchtling eingesetzt haben, wenn dieser nur ein entflohener Klosterbruder aus Saint-Ayoul oder irgendeine weltliche Persönlichkeit war? Hatte sie bei ihrem Einsatz nicht etwa auch ureigene Motive verfolgt?

Mehr noch: Könnte es sich bei der verfolgten Person gar um Peter Abaelard persönlich gehandelt haben?

Vorweg ist festzuhalten, dass die inkriminierte, flüchtige Person nicht ein Ordensmitglied gewesen sein muss, sondern in der Tat auch einer externen Person entsprochen haben kann. In diesem Fall hatte man dem Betreffenden in Saint-Ayoul wohl das gewünschte Asyl verwehrt.

Einzelne Sätze in den beiden Briefen deuten an, dass der Delinquent von gewissem gesellschaftlichen Rang und eventuell kirchenpolitischer Bedeutung war. Wenn für Abt Peter eine Namensnennung und eine konkrete Schilderung des Sachverhalts von so großer Peinlichkeit war, dass er auch künftigen Generationen dieses verschwieg - könnte es sich nicht um den Casus eines verurteilten und verfolgten Ketzers wie Abaelard gehandelt haben? Wie Peter allegorisch andeutete, hatte der Verfolgte versucht, sich in die Geheimnisse Gottes einzumischen; dafür erlitt er nun die gerechte Strafe, der er nicht entgehen durfte. Und handelte es sich nicht um eine Angelegenheit von großer Tragweite, wenn der Abt plötzlich über die bedenkliche Gegenwart und die ungesicherte Zukunft reflektierte? Hatte er mit dem Bild der Buße und der Verbesserung in der Einsamkeit vielleicht das verhängte Strafmaß des Delinquenten angedeutet - eine Isolation in Klosterhaft? Hatte sich der Prior von Saint-Ayoul etwa deshalb den Widerstand seiner eigenen Mitbrüder zugezogen, weil er einem von früher her bekannten Flüchtling die Aufnahme verweigerte?

In diesem Zusammenhang fallen einige Sätze besonders ins Auge:

Der Gedanke an Abaelard drängt sich in diesen Sätzen beider Briefe geradezu auf.

Als Peter Abaelard nach dem Konzil von Sens im Jahr 1141 von Papst Innozenz II. zu Klosterhaft und ewigem Schweigen verurteilt worden war, musste er mit Verhaftung rechnen - in erster Linie durch die Offizialen des Erzbischofs von Sens. Abaelard hatte kurz zuvor seinen Lehrstuhl bei Saint-Hilaire auf dem Genoveva-Berg in Paris aufgegeben. Es drohte ihm nun erneut eine Zwangseinweisung in einen Konvent - so wie damals in Soissons, doch diesmal auf Lebenszeit. Deshalb erscheint es nur allzu plausibel, wenn der flüchtige Lehrer zunächst die Champagne und den Paraklet aufsuchte und Heloïsa verständigte, die damals bereits im elften Jahr den Konvent leitete. Ein weiteres Verbleiben dort wäre ihm jedoch nicht möglich gewesen - seine Utopie eines Doppelklosters beim Paraklet war nicht in Erfüllung gegangen. So könnte ein Unterkommen in Saint-Ayoul - in unmittelbarer Nähe - ganz in Abaelards und Heloïsas ursprünglicher Absicht gelegen haben. Dort jedoch könnte er vom Prior abgewiesen worden sein.

Peter Abaelard war im Priorat Saint-Ayoul in Provins kein Unbekannter. Schon einmal - im Jahre 1121 - hatte er sich dorthin geflüchtet, als er im Kloster Saint-Denis bei Paris in Ungnade gefallen war und mit einer Verhaftung durch den König rechnete:

Ich hielt mich zunächst bei dem Schloss Provins auf, in einer Klause der Mönche von Troyes, deren Prior mir bereits vorher befreundet gewesen war und mich lieb gewonnen hatte. Dieser war über meine Ankunft sehr erfreut und sorgte für mich auf die liebenswürdigste Weise... - Ibi autem in castro Pruvigni morari cepi, in cella videlicet quadam Trecensium monachorum, quorum prior antea mihi familiaris extiterat et valde dilexerat; qui valde in adventu meo gavisus, cum omni diligentia me procurabat... Abaelard, Historia Calamitatum

Den gesamten Winter 1121/1122 hatte Abaelard in Provins verbracht. Erst im nächsten Frühjahr erhielt er nach dem plötzlichen Tod seines Abtes Adam und nach zähen Verhandlungen die Erlaubnis, bei Nogent-sur-Seine an den Ufern des Ardusson ein Oratorium zu errichten, welches er dem Paraklet weihte. Die Gegend sei ihm bekannt gewesen, so schrieb er. So mag es fast zwanzig Jahre später in Saint-Ayoul immer noch ein paar Mönche gegeben haben, die mit Abaelard auf vertrautem Fuß standen und ihm erneut Asyl gewährt haben würden. Eventuell erwartete er in Saint-Ayoul sogar noch seinen ehemaligen Freund und Prior, der nach unseren Recherchen Radulf hieß.

Abgesehen davon mögen Heloïsa und Abaelard die Erfolgschancen eines derartigen Asylgesuchs deshalb als nicht gering eingeschätzt haben, weil der eigentliche Entscheidungsträger, Abt Peter von Celle, dem greisen Abaelard Einiges zu verdanken hatte:

Zusammen mit seinem Freund Johann von Salisbury hatte er einige Jahre zuvor auf dem Montagne Sainte-Geneviève bei Peter Abaelard studiert - etwa nach 1133. Doch im Gegensatz zu Johann, der nie in ein Kloster als Mönch eintrat, sondern Weltkleriker blieb, hatte sich Peter von Celle bei seiner Konversion um 1136 herum von der aufklärerisch-innovativen Lehre Abaelards distanziert - und sich in seinem durchbrechenden Hang zur Askese und Mystik der monastischen Reformbewegung Bernhards von Clairvaux angeschlossen. Damit war er sozusagen zum ideologischen Widersacher seines vormaligen Meisters geworden. Er war in diesem Gesinnungswechsel beileibe kein Einzelfall - ähnlich erging es einem Gottfried von Auxerre oder Wilhelm von Saint-Thierry, die als ehemalige Schüler Abaelards später zu dessen erklärten Gegnern gehörten. Nach seinem Studienaufenthalt in Paris trat dann Peter von Celle in den Benediktinerkonvent von Montier-la-Celle ein.

Die unterschiedlichen Attitüden der Freunde Johann von Salisbury und Peter von Celle in Bezug auf Abaelard erkennt man daran, dass Johann von Salisbury später keine Probleme damit hatte, seinen ehemaligen Philosophie- und Theologielehrer in seinen Schriften lobend zu erwähnen, während Abt Peter als nunmehr erzkonservativer Ordensmann ihn und Heloïsa künftig totschwieg. Wenn die oben erwähnte Randbemerkung von ihm stammte, dann allerdings hätte er seinen ehemaligen Lehrer unterschlagen, wenn er denn überhaupt vom Sachverhalt wusste.

Wie dem auch sei: Abaelard hatte sich um Peters von Celle schulisches Fortkommen bemüht, und man kannte sich persönlich. So mag der verurteilte Abaelard an ihn einige Hoffnungen geknüpft haben.

Aber Peter von Celle reagierte mit Ablehnung: Peter Abaelard war ja nach 1141 ein päpstlich verurteilter und verfemter Ketzer. Mit ihm, dem einstigen Lehrer, in irgendeiner Weise in eine Verbindung gebracht zu werden, wird für den Abt von Montier-la-Celle eine Peinlichkeit dargestellt haben. Ebenso wenig wollte er mit einer Frau in Kontakt treten, deren Ehe mit Abaelard nicht nur als nicht aufgelöst galt, sondern die sich obendrein auch noch erdreistete, eine Nonnengemeinschaft zu leiten, welche nicht der benediktinischen Regel, sondern derjenigen eines Ketzers folgte, und die nicht einmal als Äbtissin anerkannt war. Notabene: Diesen Titel verlieh Papst Eugen III. Heloïsa erst im Jahre 1147.

Scheu, peinliche Gerührtheit und eine gewisse Abneigung des Abtes gegenüber Abaelard spiegeln auch zwei andere Begebenheiten wieder, die innerhalb dieser Seiten an anderer Stelle ausführlich beschrieben sind: Peter von Celle, De Disciplina claustralis, Reminiszenzen zu Peter Abaelard und seinen Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum.

So hatte einige Jahre nach den hier geschilderten Ereignissen Abt Peter in einem Streit mit Heloïsa um den Zehnten von Saint-Aubin klein beigegeben und tunlichst einen persönlichen Kontakt bzw. einen Besuch im Paraklet vermieden; statt dessen schickte er seinen Bruder Engenold und einen weiteren Verwandten zu den heiklen Vertragsverhandlungen. Andernfalls wäre er genötigt gewesen, seinem toten Lehrer - einem zwar durch Petrus Venerabilis absolutierten, aber nicht offiziell rehabilitierten Ketzer - in seinem Grab die letzte Reverenz erweisen zu müssen. Das andere Mal spielte Peter von Celle in seinem Spätwerk Über die Klosterzucht auf Abaelards Collationes an, ohne deren Autor expressis verbis zu erwähnen. Auch hier erging sich der Abt lediglich in Andeutungen.

Die Hypothese, dass obiger Briefwechsel mit dem Fall Abaelard in Verbindung steht, ist also in der Tat verführerisch und erklärt einige Besonderheiten der obigen Briefe plausibel.

Als Gegenargument mag der kritische Leser einwenden, dass Peter von Celle nach allen gängigen Biographien erst fünf Jahre nach Abaelards Verurteilung - im Jahre 1145 - Abt in Montier-la-Celle wurde. Doch diese Ansicht ist ein Irrtum - und die Sachlage ist beim weitem nicht so klar, wie sie zunächst erscheint. Zur Überprüfung der Frage des Amtsantritts in Montier-la-Celle verbleibt als einzige verlässliche Quelle das Kartularium des Klosters. Der Briefwechsel und andere Werke des Abtes tragen zur Datierung seines Lebens nur wenig bei. Das Kartularium erschien im 19. Jahrhundert erstmals in Druckfassung: C. Lalore, Cartulaire de Montier-la-Celle, Paris, 1882.

Nach diesem Werk ist lediglich gesichert, dass im Jahre 1139 noch ein gewisser Walter Abt des Klosters bei Troyes war, während Peter von Celle erstmals im Jahre 1145 im Abbaziat dokumentiert ist. Dazwischen existieren keine Urkunden, die den Abt von Montier-la-Celle namentlich ausweisen. Demnach trat Peter von Celle auf jeden Fall sein Abbaziat nicht erst im Jahre 1145 an, sondern vielmehr früher - zwischen 1139 und 1145. Seine Beteiligung am Fall Abaelard rückt also durchaus in den Bereich des Möglichen.

Vielleicht war er sogar als Mönch oder Prior bei dem Konzil von Sens anwesend, welches Abaelards Schriften verurteilte. Montier-la-Celle lag ja nur einen Tagesritt von Sens entfernt, und es ist bezeugt, dass sich zu diesem Ereignis eine Unmenge neugieriger Wissenschaftler, Schulleute, Kleriker und Ordensleute eingefunden hatten.

Falls mit seinem Amtsantritt als Abt auch ein Wechsel in der Leitung des Priorats von Saint-Ayoul erfolgte - 1145 ist dort ein Prior namens Milo bezeugt, zuvor trugen die Vorsteher andere Namen -, mag Heloïsa durch dessen ablehnendes Verhalten durchaus überrascht worden sein. Dies könnte die Verärgerung ausgelöst haben, die sie Abt Peter von Celle anschließend spüren ließ. Sollte also Peter Abaelards Asylgesuch in Provins dergestalt abgelehnt worden sein, wie eben geschildert, so hatte dieser damit die einzige Möglichkeit verloren, in unmittelbarer Nähe zu Heloïsa seinen Lebensabend zu verbringen. Damit blieb ihm nur noch eine letzte Möglichkeit offen, nämlich nach Cluny zu wechseln, wohin ihn - ebenfalls auf Vermittlung Heloïsas - Abt Petrus Venerabilis in zwei Briefen eingeladen hatte.

So kam es dann auch: Abaelard begab sich ganz unzweifelhaft in den Kluniazenser-Konvent und verbrachte in ihm seine letzten Tage.

Damit wollen wir unsere Überlegungen in wenigen Schlusssätzen zusammenfassen:

Mit der Hypothese, dass sich obige Korrespondenz direkt auf den Fall Abaelard bezog, erklären sich zwanglos einige Besonderheiten, die die Briefe 25 und 26 von der restlichen Korrespondenz Peters von Celle deutlich abheben, z. B. sein Verschweigen der Namen, die Diskretion um die beschuldigte Person und den dazu gehörigen Sachverhalt, die erkannte Gefahr für die Zukunft der Kirche, den ungewöhnlichen Autoritätsverlust eines Priors.

Dennoch liegt diese Hypothese im Spekulativen; es lässt sich nichts anführen, was abschließenden Beweischarakter trüge. So verfolgten wir mit unseren Gedankengängen nur eine Absicht - nämlich deutlich zu machen, dass sich der in den Briefen angedeutete Casus eines Flüchtigen auf Abaelard nach seiner Verurteilung im Jahre 1141 bezogen haben kann - nicht mehr, aber auch nicht weniger!

 


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